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"...oder lass mich mit ihnen zieh'n!" - Migranten ante portas

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"...oder lass mich mit ihnen zieh'n!"*
Migranten ante portas
von Holger Lange

Sie bestimmten die Schlagzeilen: Hunderte Flüchtlinge, die die Grenzbefestigungen der beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla gleichzeitig überrannten. Die nächtlichen Aufnahmen der Überwachungskameras geben dem fernsehenden Europa Anlass zu Spekulationen, ob dies der Anfang einer lang angekündigten allgemeinen Ausreisewelle aus Afrika sei.

Europa arbeitet kräftig an seinem komplizierten Selbstverständnis. Einerseits braucht es einen zugkräftigen Slogan der Einheit. Jeder soll gleich wissen, was Europa ist. Andererseits will es die typischen Fehler der Nationalmythen nicht wiederholen, will gar nicht wie diese so einseitig strahlend schön und gut erscheinen. So versteht es sich von vornherein als Kontinent der Regionen, der Differenzen, der Kulturen und der fruchtbaren Gegensätze, ganz anders also, als der American Einheitsbrei, die russische Autokratie und der chinesische Blauhemdkapitalismus. Weltoffen soll dieses Europa sein. Nicht zuletzt leitet sich aus dieser Weltoffenheit der Anspruch ab, in der Welt offen mitzumischen. Ein Europa der Zukunft soll es sein, eines der Chancen und der Gleichheit für alle.

Es wächst in dem Maß, in dem sich Europa eine Identität erarbeitet, das Bewusstsein, das jenseits seiner Grenzen ein Nicht-Europa liegt. Dieses neue Gespenst, das den bürgerlichen Kontinent durchgeistert, ist ein Migrant. Besser: Ein Nicht-Europäer, der in Europa Zukunft, Chancen und Gleichheit erkennt. Nun fürchten sich die Europäer, allesamt wohlhabende Individualisten, ihrem weltoffenen Charakter gehorchend, weniger vor Differenzen und umso mehr vor Quantitäten. Die "Masse Mensch" gibt es innerhalb des kulturell hoch differenzierten Europas nicht mehr, aber jetzt steht sie wie ein Albtraum vor seinen Festungstoren. Da werden Einwanderer unversehens zu anbrandenden Flutwellen.

"Der Migrationsdruck aus dem Süden, aber auch aus Asien wird zunehmen, das liegt einfach an dem großen Gefälle, dem wirtschaftlichen und sozialen Gefälle zwischen diesen Regionen und Europa. Europa ist halt Zielland aufgrund der guten wirtschaftlichen Verhältnisse hier und der schlechten Verhältnisse in anderen Ländern." (Bundesinnenminister Otto Schily im Interview mit Ulrich Wickert, tagesthemen (ARD) 12. Oktober 2005)

Wie viele Migranten wollen jedoch tatsächlich ins neue Europa? Diese Frage hat gar niemand beantwortet. Statistische Erhebungen zählen nur die faktisch Eingewanderten. Gleichwohl bekäme erst mit der Antwort auf diese Frage die Behauptung einen Sinn, Europa könne "derart viele" Einwanderer wirtschaftlich und kulturell nicht verkraften. Die Antwort spielt dabei wohl keine Rolle. Stattdessen suggerieren sowohl die politischen Schlagworte als auch Investitionen in die Grenzbefestigungen einen nicht versiegenden Strom von Flüchtlingen. In Afrika und ebenso östlich der Donau im Lande der Kasachen und Ukrainer packen dem Anschein nach ganze Völkerscharen ihre Koffer, um sich zu uns auf den Weg zu machen. Weil es hier so schön ist. Weil es hier Zukunft gibt, und Chancen, und Gleichheit für alle.

"Die Guardia Civil geht inzwischen davon aus, dass es in den kommenden Monaten weiterhin zu massiven Einreiseversuchen kommen wird. Die verzweifelten Versuche einer Erstürmung der Grenzanlagen gingen von Menschen aus, die bereits seit Monaten in Wäldern nahe der spanischen Exklaven campierten. Die provisorischen Lagerstätten wurden inzwischen von den marokkanischen Behörden geräumt. Nach Angaben der Europäischen Kommission sind derzeit weitere 30.000 Personen in Marokko und Algerien in Richtung Europa unterwegs." (Migration und Bevölkerung, Ausgabe 9, November 2005)

Zum Vergleich: 1989 entschieden sich 220.000 DDR-Bürger zur Ausreise nach Westdeutschland. Ich, Westberliner, erinnere mich an die Fernsehbilder, die hunderte Menschen über die Zäune der bundesdeutschen Botschaft in Prag klettern zeigten. Die Botschaft beherbergte bald 4.000 Flüchtlinge. Ich höre ihren Jubel, als Bundesaußenminister Genscher bekannt gibt, dass ihrer Ausreise nichts mehr im Wege steht. Dieser Jubel, ein Vorbote des unvermeidlichen Endes eines Staates, der seinen Bürgern keine Zukunft mehr bedeutet.



Du bist Afrika
Quelle:http://www.deutsche-botschaft.cz


Die verzweifelten Flüchtlinge, die an die Türen Europas klopfen, sind den Europäern ein großer Segen für das europäische Selbstvertrauen. Die Zahlen bezeugen, dass es sich lohnt, in und für Europa zu leben. Sie können deshalb nicht hoch genug ausfallen.

Weblinks:
http://www.tagesschau.de/thema/0,1186,OID4839176_REF_NAV_BAB,00.html
Dossier: Flucht nach Europa

http://www.aerzte-ohne-grenzen.de/Service/Publikationen/Hintergrundberichte.php
"Violence and Immigration" Bericht zur Lage der Flüchtlinge in Marokko

http://www.grundrechtekomitee.de/ub_showarticle.php?articleID=150
Thomas Hohlfeld u. Dirk Vogelskamp: Der Krieg gegen die trikontinentale Massenarmut - Migration, Flucht und die Rückkehr der Lager

*Zeile aus dem Lied "Musikanten sind in der Stadt" von Reinhard Mey

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