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In der einen Kunstecke

"Sie haben Zeit, sich zu langweilen"

Metamorphosen

Die Hausarbeit

Mein Haus, meine Straße

In der anderen Kunstecke

Arbeit






"Sie haben Zeit, sich zu langweilen"
Bericht aus der Quarantäne-Station

von Holger Lange



Ich bin gleich wieder draußen. Am Tisch im Aufenthaltsraum vor dem Zimmer, das ich acht Nächte bewohnt habe, sitze ich. "Lichthof" nennt man hier den Raum. Es ist ein Durchgangszimmer. Hier findet man die Türen zu einem Fahrstuhl und zu einem Treppenhaus. Nur für das Personal. Patienten haben einen anderen Ein- und Ausgang zu benutzen. Hier sitzen die Patienten, die heute entlassen werden. Ich bin der einzige heute. Vor den Fenstern stehen große Blumenkübel mit üppigem Grünzeug, das ich nicht bestimmen kann. Links zum Fenster ein Buchregal. Konsalik: Die weiße Flut. Simmel: Hurra, wir leben noch. Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen. Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Englisch: Verben.

Niemand liest diese Bücher. Es ist kaum Zeit. Auch kann man kann es nicht erwarten, ist ungeduldig. Neben der Reisetasche, die im Spind verschlossen war, in einer weißen Plastiktüte die Dinge, die man in der Quarantäne zum täglichen Gebrauch hatte. Schwester Consilia* kommt zu mir, fragt mich, ob die Tüte bereits auf Reststrahlung untersucht wurde. Ich verneine. Die Schwester nimmt die Tüte mit zum Geigerzähler. Kurz darauf kehrt sie mit der Tüte wieder zurück. Alles ist in Ordnung. Ich packe die Tüte in die fast leere Reisetasche.

Mein Frühstück wird heute hier im Lichthof serviert. Der große Wagen klappert von Tür zu Tür. Guten Morgen, Kaffee oder Tee? Wie geht es? Gut geschlafen? Der Klang der Schwesternstimmen wandelt sich im Laufe der Zeit von routiniert nach herzlich. Ich spüre Abschiedsschmerz. Feine Leute sind das hier. Feine Leute. Ich sehe Schwester Lucia wieder. Wir hatten uns schon am Sonntag verabschiedet, denn gestern und vorgestern hatte sie frei. Besuchte mit der Enkeltochter den Zoo. Schwester Lucia macht mein Zimmer sauber. Immer wieder verschwindet sie im Zimmer und taucht wieder auf. Das Zimmer wird mir fremder. Sie macht den Weg für den Frühstückswagen frei, als dieser den Gang erst herauf und dann wieder herunter kutschiert wird. Als sie mit dem Zimmer fertig ist, verabschieden wir uns erneut. Ich möge so fröhlich bleiben, wie ich bin, wünscht sie mir. Dann schiebt sie den Wagen mit den Putzutensilien und den Körben für die gebrauchte Wäsche weiter. Schwester Consilia entfernt die Schildchen rechts neben der Tür. Die Zimmer sind heiß begehrt. Vier bis sechs Wochen Wartezeit. Gleich darauf zieht die nächste Patientin ein. Ich möchte heulen. Ich bin aber eh gleich draußen. Also lache ich.

Vor acht Nächten komme ich herein. Aufnahmeformalitäten: "Sind sie einer Konfession angehörig?", fragt die Stationsleiterin. Ob sie erwarte, dass ein Beistand nötig sein wird, entgegne ihr. Nein, lacht sie, nur manchmal fragten Patienten nach einem Seelsorger. Evangelisch, sage ich. Im Behandlungsvertrag wird nach meinem Einverständnis für die Sektion im Falle meines Ablebens gefragt. "Das müssen Sie nicht beantworten.", sagt die Leiterin und lacht. "Gut!", sage ich. Und lache mit. Dann lasse ich es unbeantwortet. Es ist ja nur die Schilddrüse. Der Arzt nimmt mir Blut ab, fragt nach Allergien und welche Medikamente ich einnähme. Seine Scherze wirken übernächtigt. Mir fallen die Ärzteproteste ein.

Danach erhalte ich in meinem Zimmer die Einweisung in verpflichtende Verhaltensweisen durch Schwester Regula. Während der Therapie darf ich nur die Krankenhauskluft tragen. Ich erhalte ein Nachthemd, einen Frotteemantel, ein Paar Einmal-Socken für zwei Tage, zwei Einmal-Unterhosen für je einen Tag sowie die dazugehörigen Herrenbinden. Außerdem zwei Handtücher, ein Geschirrhandtuch, einen Lappen zum Geschirrspülen und drei Einmal-Waschlappen. Zunächst finden sich in der durchsichtigen Plastiktüte auf dem gemachten Bett nur Damenbinden. Ich halte das erst für eine Unisex-Ausgabe. Man kennt das ja nicht. Aber Schwester Regula korrigiert den Fehler. Ich bekäme Binden. "Und was für welche!", fügt sie hinzu. Herrenbinden sind deutlich größer. Damit könne ich alles verdecken, denn die Unterhosen sind nur kleine grobmaschige Netze mit Löchern für die Beine. So grobmaschig wie Satsuma-Netze aus dem Supermarkt. Immerhin aus Baumwolle. Die Binden sorgen also für die Hygiene zwischen den Beinen, wo es sonst die Unterhose tut. Alle Einmal-Wäsche gehört nach dem Tragen in spezielle Hygiene-Beutel aus Papier. Diese in eine spezielle Abfalltüte im Bad, aus dem die reinigenden Schwestern sie jeden Tag entfernen werden. Ebenso müssen alle benutzten Taschentücher, Zahnbürsten und Rasierklingen in Hygiene-Beutel. Jeden Tag erhalte ich ein neues Nachthemd. Nach Bedarf erhalte ich neue Hand- und Geschirrtücher. Die benutzten Exemplare lege ich an das Ende des Bettes. Ebenso soll ich morgens das benutzte Nachthemd ans Bettende legen, wo es die Schwester dann mitnimmt. Zu ihrem Schutz tragen die Schwestern Gummihandschuhe. Besonders in den ersten Tagen soll ich viel trinken. Und Bonbons lutschen oder Kaugummi kauen, um den Speichelfluss zu stimulieren. Damit sich das radioaktive Jod nicht in den Speicheldrüsen staut. Auch die Schwestern kauen viel Kaugummi. Das sieht manchmal sehr verwegen aus.

Die Toilette ist Vakuum betrieben. Der Hahn am Waschbecken stoppt die Wasserzufuhr automatisch. Je weniger Wasser ich verbrauche, desto besser, denn der Tank im Keller des Gebäudes, in dem die radioaktiv belasteten Abwässer "abklingen", wie es heißt, ist von begrenztem Fassungsvermögen. Anstelle einer Klobürste ist eine Spritzpistole zu benutzen, die über einen Schlauch mit einem zweiten Wasserhahn verbunden ist. Der zweite Hahn schließt nicht automatisch. Die Reinigung des Bestecks und des Trinkgeschirrs obliegt mir. Die Ablage des Waschbeckens reicht dafür auch gerade so aus. In den nächsten Tagen stellt Geschirrspülen eine willkommene Abwechslung dar. Genauso wie das Ausfüllen der Essenskarten. Jeden Tag fülle ich sie für je zwei Tage im Voraus aus. Es gibt je eine für Frühstück, Mittagessen und Abendbrot. Mithilfe des wöchentlich ausgegebenen Speiseplans kreuze ich Brühe oder Suppe, Vollwert- oder Schonkost, Käse oder Wurst, vom Schwein oder Geflügel, mit Fleisch oder vegetarisch, Schwarz- oder Graubrot, Butter oder Margarine, Kompott oder Fruchtjoghurt an.

Da draußen sehr sommerliches Wetter herrscht, empfiehlt mir Schwester Regula, das Fenster am Nachmittag geschlossen zu halten und die Jalousie anzuwinkeln, damit nicht unnötig Hitze in den Raum dringt. Ab Mittag scheint die Sonne direkt auf das Fenster. Das Fenster zeigt nach Südwesten. Zur Linken blicke ich auf die Speicher des Berliner Westhafens, zur Rechten befindet sich ein Parkplatz. Direkt vor meinem Fenster steht eine Birke, die auf der Höhe des Fensters große abgestorbene Äste aufweist. Wie weit die Strahlung reiche, frage ich die Schwester. Praktisch überall hin, wo die Schwestern sich im Raum aufhalten, antwortet sie. Sobald eine der Schwestern das Zimmer betritt, soll ich mich auf den Sessel in der hinteren Ecke setzen. Dort warte ich bis die Schwester den Raum wieder verlassen hat. Wenn ich für die tägliche Messung den Abstand zwischen mir und den Schwestern verringern muss, schützt diese eine auf Rädern montierte Bleiplatte vor den mich mit Lichtgeschwindigkeit verlassenen Gammastrahlen. "Aber die Leute auf dem Parkplatz sind auch bei geöffnetem Fenster nicht gefährdet?", frage ich scherzend. Nein, die nicht. Ich werde oft am Fenster stehen.

Besuche sind nicht gestattet. "Mein" Zimmer endet an der Tür zum Vorraum. Man hat mir erklärt, es sei mir erlaubt, mit dem Arm durch die Tür den Lichtschalter zu den Neonröhren an der Decke zu betätigen. Ich betätige den Lichtschalter während meines ganzen Aufenthaltes nicht einmal. Das Leselicht über dem Bett reicht mir völlig aus. Der Vorraum ist mir schnuppe. Das Zimmer misst grob geschätzt neun bis zehn Quadratmeter. Mit WC-Raum vielleicht elf. Im Zimmer befinden sich neben dem Bett, dem Spind und dem Sessel, ein Nachttisch mit Telefon, ein Esstisch und ein Stuhl. Über dem Tisch hängt an der Wandhalterung ein kombiniertes Radio-Fernsehgerät, das ich über die Tastatur des Telefons anwählen kann. Einfach den Hörer abnehmen, die Taste "Radio/TV" drücken und die gewünschte Kanalnummer. Eine Stimmautomatik aus dem Hörer bestätigt meine Wahl, sagt zum Beispiel "Fernsehen", wenn ich einen Fernsehkanal gedrückt habe. Ich muss die Ansage stets abwarten, sonst reagiert der Apparat nicht. Erst danach darf ich den Hörer wieder auflegen. Ich kann zwischen 24 Fernseh- und sechs Radiokanälen wählen. Die Lautstärke steuere ich nach demselben Muster. Auch das Zappen funktioniert so. Da ich kein Programmheft habe, zappe ich mich in der folgenden Woche zwei- oder dreimal durch die Kanäle. Das dauert unglaublich lange. Wenn ich ausmachen will, hebe ich den Hörer ab, drücke die Radio/TV-Taste am Telefonapparat und anschließend die Doppelnull. Das Telefon sagt: "Ausschalten". Und ich lege auf.

Am Nachmittag endlich kommen die Operationsschwestern mit dem radioaktiven Jod. Inzwischen habe ich mich umgekleidet. Meine Zivilkleidung hängt im Spind. Die Reisetasche steht unten, Schuhe nebst Socken oben. Dazwischen Hemd und Hose. Die Tür bleibt für die Dauer meines Aufenthaltes verschlossen, damit ich am Entlassungstag unverstrahlte Kleidung parat habe. Ein letztes Mal darf ich dicht an die Schwestern herantreten, die mir die Jod-Kapsel in einem kleinen Becherchen reichen. Die Pille darf ich nicht anfassen, nicht kauen, nicht ausspucken, am besten auch nicht lang angucken, sondern nur einfach schlucken. Gar kein Problem. Das war es schon. Das war die therapeutische Maßnahme. Von nun an wartet man nur noch darauf, dass die Strahlung wieder abklingt, dass ich wieder unter Leute gelassen werden kann. "Sie schlucken die Tablette", sagte der übernächtigte Arzt vor acht Tagen, "und dann haben Sie Zeit, sich zu langweilen."

*Namen der Schwestern geändert.


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