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In der einen Kunstecke "Sie haben Zeit, sich zu langweilen" Metamorphosen Die Hausarbeit Mein Haus, meine Straße In der anderen Kunstecke Arbeit |
Mein Haus, meine Straße ... von Holger Lange Ab und zu fahre ich in die Gropiusstadt. Dort habe ich rund zwei Jahrzehnte meines Lebens verbracht, ich wuchs dort auf. Wenn ich dort bin, kann ich nicht fremd sein. Das Wege- und Straßennetz ist mir vertraut. Die Schulen, das Schwimmbad, die Einkaufszentren sind alle an ihrem Platz. Ich sehe die Wohntürme als wären es hohe Felsklippen. Meine Vorstellungen sind vor allem durch meine Kindheit geprägt. Alles erscheint mir kleiner als früher, obwohl ich meine jetzige Körpergröße doch nicht erst außerhalb erreicht habe. Nur die Bäume sind mit mir gewachsen. Jetzt im Sommer sieht die Gropiusstadt an vielen Stellen aus, als wäre sie mitten in einem Wald gebaut. Heute am Sonntag, bin ich mit dem Bus gekommen und gehe zu Fuß zum Rodelberg am Kopfende des Joachim-Gottschalk-Wegs. Der Rodelberg liegt versteckt unter Bäumen. Im Stern-Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" ist ein vom Rodelberg aus geschossenes Foto abgedruckt. Da sieht die ganze Gegend furchtbar und trostlos aus, was mit Schwarzweißfotos auch immer ganz prima zu machen ist. In Wirklichkeit tummelten sich auf dem Berg, der bestimmt 10 oder 12 Meter hoch ist, das ganze Jahr über und, wie der Name schon andeutet, besonders im Winter die Kinder. Im Sommer war es eigentlich nur ein mehr oder weniger langweiliger Hügel. Immerhin gab es auf der einen Seite einen Kinderspielplatz und der Weg führte dann weiter zu den Sportplätzen. Die waren aber meistens schon besetzt. So wurde ich dann mehr der Querfeldein-Typ und scher mich heute nicht viel um ausgewiesene Plätze. Es sei denn es geht ums Geschäft. Der Rodelberg, auf dem Christiane F. einst stand, war auch mein Rodelberg. Das Vorurteil, die Kinder in der Gropiusstadt würden dauernd in die Fahrstühle pullern, weil sie es nie rechtzeitig in die elterliche Wohnung im 24. Stock auf die Toilette schaffen, kann ich nicht bestätigen. Ich habe jedenfalls keine Erinnerung an stinkende Aufzüge. Ich selbst wohnte mit meinen Eltern in einem weniger hohen Haus ohne Fahrstuhl und habe es immer rechtzeitig geschafft. Vor unserem weniger hohen Haus öffnete sich ein Platz mit vielen Bäumen, einer großen Rasenfläche, die nicht zu betreten war, was bald kaum jemanden kümmerte, und einer Brunnenanlage, an deren Betrieb ich mich nur undeutlich erinnern kann. Denn schon zu meiner Kleinkindzeit sparte man gerne am Brunnenbetrieb. So sollte wohl jeder erkennen, dass öffentliche Gelder knapp bemessen sind, ohne dass jemand ernsthaft eingeschränkt wurde. Außer die Kleinkinder, für die der bewässerte Brunnen gerade in der Sommerzeit ein echt tolles Erlebnis war. Heute sind die jene Brunnensegmente umlaufenden Kanäle Blumenrabatte und der Rasen mit Jägerzaun umschlossen. Früher trockner Brunnen, heute üppige Grünkomposition. In der Gropiusstadt gibt es vier U-Bahnstationen. Über der U-Bahnstrecke liegt eine Parklandschaft. Auf dem Weg zwischen den beiden äußersten U-Bahnhöfen Johannisthaler Chaussee im Norden und Zwickauer Damm im Süden überquert der Spaziergänger lediglich zwei Autostraßen: Die Namensgeber der beiden mittleren U-Bahnhöfe Lipschitzallee und Wutzkyallee, deren Namensgeber wiederum der SPD zuzuordnen sind. Viele Gropiusstädter Straßen sind nach SPD-Politikern und Kämpfern gegen das NS-Regime benannt. Auf dem Eingangsgebäude des U-Bahnhofs Wutzkyallee zeigt eine Uhr, ein Projekt des japanischen Künstlers Tatzu Nishi, die richtige Zeit an. Eine Uhr hatte hier am Marktplatz noch gefehlt. Übrigens: Hier in dieser Ecke der Gropiusstadt tragen Straßen, Wege und Plätze die Namen deutscher Kulturschaffender, zumeist heute kaum noch gewürdigter Schauspieler: Neben Lion Feuchtwanger also Theodor Loos, Rotraut Richter, Joachim Gottschalk, Horst Caspar, Käthe Dorsch u. a. Über den U-Bahngleisen erstreckt sich diese lange Fußgängerzone, die gesäumt ist von Wiesen, Blumenbeeten und Bäumen, Spiel- und Sportplätzen. Querverbindungswege führen zu den Wohnanlagen. Erst zu den kleineren, dann zu den größeren Gebäuden, die sich auf diese Weise dem Auf und Ab einer Wellenlinie annähern, so dass im Laufe eines Tages das Licht der Sonne jede Wohneinheit bescheint. Bei meinen Besuchen achte ich, anders als früher, auf die Sauberkeit der Wege und Beete. Schon während ich noch im Bus sitze, entdecke ich nur eine handvoll Wandmalereien. Vandalismus Fehlanzeige. Zerborstene Bierflaschen? Nüschte! Es liegen nicht einmal besonders viele Zigarettenkippen am Wegesrand und in den Blumenbeeten. Ich möchte sagen: Hier liegen sogar weniger Kippen herum als an anderen Ecken der Stadt. Die Sauberkeit sticht ein wenig ins Auge. Was ist hier eigentlich los? frage ich mich und versuche, den Haken zu entdecken. Schulweg von "Schnuckelchen" Jeanette Biedermann: Die Wutzkyallee. Nichts ist los. Vielleicht liegt das auch an der Mittagshitze an diesem Sonntag. Besser als Randalieren ist es, im Freibad Lipschitzallee das kühle Nass zu genießen. Mitte Februar jedoch vermeldete die Zeitung "Die Welt" Großalarm für die Berliner Polizei. Bis zu 200 Jugendliche hätten sich per SMS zur Massenschlägerei auf dem Platz vor dem U-Bahnhof Wutzkyallee verabredet, daran nur gehindert durch ein entschiedenes Eingreifen der Polizei. Doch augenscheinlich bestand die Menschenmenge vor allem aus Schaulustigen. Immerhin zwei Jungs wurden aufgrund illegalen Waffenbesitzes verhaftet (Quelle: Hans Nibbrig: Polizei verhindert Massenschlägerei. http://www.welt.de 18. Februar 2006). Ein paar Wochen später korrigierte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Darstellung des Sachverhalts wie folgt: "Es war keine Massenschlägerei", schimpft Andreas Retschlag, Leiter des zuständigen Polizeiabschnitts, über die Hysterie der Medien. "Es war eigentlich eine banale Geschichte." Nichtsdestotrotz hat ihn die Sache bewegt. Er hat die Waffenbesitzer persönlich gesprochen: freundliche, intelligente, junge Männer aus stabilem Elternhaus, frei von jeglicher Frustration und voller Optimismus für die anstehende Ausbildungsplatzsuche. Der eine sei zur Strafe mit einem väterlichen Fußballverbot belegt worden. Der andere habe kräftig Schelte bekommen. (Quelle: Julia Schaaf: Bloß keine Schwäche zeigen. www.faz.net 12. März 2006) Das von mir examinierte Areal, zu dem auch der fragliche Marktplatz gehört, war wie bereits angedeutet zum Zeitpunkt meiner Untersuchung frei von Spuren gewaltsamer Auseinandersetzungen. Anfang der Neunziger hingegen bereinigten die Kreuzberger "36 Boys" eine unerträgliche gewordene Situation mit der "Terrorbande Wutzkyallee". Diese entschiedene Maßnahme führte im Nachhinein zu einer gründlichen Revision der Platz- und Wegearchitektur seitens der Wohnungsbaugenossenschaften. Nach und nach verschwanden die dunklen Ecken, in denen sich die ungezogene Jugend vormals zusammenrottete. Auch unterzog man die Fassaden der Wohnblöcke einer Runderneuerung. Die Wirkung dieser Erfrischungskur, die mit der Eröffnung der "Gropius-Passagen" am U-Bahnhof Johannisthaler Chaussee ihren vorläufigen Gipfelpunkt erreichte, hält offenbar bis zum heutigen Tag an. Immer noch da: Der Rosengarten vor dem Altersheim "Kurt Exner" Der Gehweg führt mich geradewegs vom Platz aus vorbei am Bahnhofseingang zur Wutzkyallee. Auf der Rückseite des Gebäudes gab es früher öffentliche Toilettenräume, die aber einen schlechten Ruf in punkto Hygiene besaßen. Längst sind die Türen verschlossen und die Hinweisschilder abmontiert. Auf der Wutzkyallee kommen mir plötzlich vier Halbwüchsige entgegen. Mir wird mulmig. Wozu gleich braucht man noch die guten Grammatikkenntnisse? schießt es mir durch den Kopf. Die Jugendlichen tragen - Puh! Noch mal Glück gehabt! - keine Baseballschläger, sondern einen Basketball mit sich, sind vielleicht auf dem Weg zum Basketballfeld zwischen Horst-Caspar-Steig und Theodor-Loosweg. Der mit dem türkischen Halbmond auf dem Shirt schaut mich etwas verständnislos an, wahrscheinlich weil ich so blöd vorbeizugucken versuche. Weblinks: http://www.okkupation.com/realisierungen/tatzunishi.htm Kunstprojekt "Die Uhr" http://www.scheinschlag.de/archiv/2004/05_2004/texte/30.html Tina Veihelmann: Erst mal die Rolltreppe hoch - Saturdaynightfever in der Gropiusstadt. scheinschlag Ausgabe 05 - 2004 Zurück auf Anfang ! |