Ausgabe 2 / 07 Archiv Impressum Heim von RX5
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Verlustig gehen

Vom ständigen Voranschreiten

Gewichtsverluste

In der äußersten Kunstecke

Verloren im Gewühl

Spannungsverlust





Spannungsverlust
von Holger Lange

Unsere alltägliche Wahrnehmung der Gegenstände der Welt verläuft in der Regel erfolgreich. Nie müssen wir die Dinge in ihrer Gänze betrachten, uns reichen schon Teile davon, um die Dinge als solche zu erkennen. Ob unsere Vorstellung mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder wir uns damit täuschen, bemessen wir jeweils daran, ob unsere Erwartungen mit der erlebten Wirklichkeit übereinstimmen. Dieses Ergebnis stellt sich gewohntermaßen nach kurzer Zeit ein. Bleibt eine Bestätigung unserer Vermutung zunächst aus, werden wir ungeduldig. Und wenn sich ein Ergebnis gar nicht absehen lässt, beginnen wir zu leiden.

Suche ich zum Beispiel einen Geldautomaten meiner Bank, halte ich Ausschau nach dem Firmenzeichen und vielleicht nach weiteren Anzeichen, die ich Geldautomaten im Allgemeinen zuordne. Aber bevor ich das Signet als Ganzes wahrnehme, reicht mir die Wahrnehmung eines Teils davon. In der Regel ist ein solches Logo derart gestaltet, dass es jedem Bankkunden gelingt, dasjenige ihrer Bank zu erkennen, ohne dass sie direkt darauf blicken müssen. Es reicht völlig aus, einen Teil für das Ganze wahrzunehmen, um seine Bank zu finden. Auf diese Weise finde ich einen Geldautomaten und der Erfolg, den ich mit dem Geldabheben erlebe, bestätigt mein Vorgehen. Dies verschafft mir ein Gefühl von Sicherheit und Zufriedenheit. Es bedeutet mir wesentlich das, was ich meine, wenn ich sage, dass ich mich in meiner Welt zurechtfinde.

Und so geht es mir den ganzen Tag. Ich finde ein bestimmtes Buch im Regal aufgrund der Betrachtung seines Umschlags, nicht aufgrund des Inhaltes. Anderenfalls müsste ich das Buch erst lesen, um es im Regal überhaupt finden zu können. Meine Vorstellung wird bestätigt, sobald ich das Buch erkannt habe, es herausnehme, es aufschlage, darin lese und das Gelesene mit meinen zuvor gemachten Erwartungen an den Buchinhalt vergleiche. Verwechsle ich den Titel eines Buches mit seinem Inhalt, finde ich das auch schnell heraus. Ich erkenne das Haus, in dem ich wohne, auch ohne es von allen Seiten zu betrachten. Die Straße, in die ich einbiege, erkenne ich als diejenige, in die ich einbiegen will, obwohl ich sie erst erlebe, wenn ich schon in sie eingebogen bin. Ich kann ohne Sorge in den ersten Waggon eines U-Bahnzuges einsteigen, ohne den letzten Waggon gesehen zu haben. Noch ein Beispiel: Die Höhe des Bahnsteigs macht es unmöglich, zu erkennen, ob die U-Bahnzüge überhaupt Räder haben. Man sieht sie einfach nicht. Ich habe allerdings noch niemals einen U-Bahnzug auf seine Fahrtüchtigkeit hin überprüft, bevor ich in ihn eingestiegen bin. Man stelle sich nun vor, in der Rushhour würden alle Fahrgäste zunächst überprüfen, ob die U-Bahnzüge genügend Räder aufweisen. Es ist offenbar nützlich, eine solche Überprüfung in irgendeiner Weise zentral und außerhalb der Betriebszeiten durchzuführen. Aber auch daran denke ich nicht, wenn ich in einen U-Bahnzug einsteige.

Das Aufstellen und Überprüfen von Annahmen über die Dinge in der Welt ist eine von mir alltäglich geübte Praxis. Tatsächlich fallen alle meine Anstrengungen darunter, die mit meinem Umgang mit den Dingen in meiner Welt zu tun haben. Mein Verhältnis zur Welt ist maßgeblich bestimmt von den Erfolgen, den ich mit meinen Annahmen erziele, und der Häufigkeit dieser Erfolge. Je öfter ich Erfolg mit einer bestimmten Annahme zu einem bestimmten Teil der Welt habe, desto zufriedener und sicherer fühle ich mich bezogen auf diesen Teil. Und zwar solange, bis ich mit meiner routinierten Annahme keinen Erfolg mehr habe. Wenn ich keinen Erfolg habe, bedeutet das, dass sich etwas geändert hat. Zum Beispiel kann die Straße, in die ich bislang immer eingebogen bin, wegen eines Wasserrohrbruches vorübergehend gesperrt sein. Es könnte aber auch sein, dass diese Straße dank einer undurchsichtigen Verkehrsplanung der Stadtverwaltung dauerhaft in eine Sackgasse verwandelt wurde. Je nach dem muss ich mich neu orientieren, falls ich das Ziel, das ich mit dem Einbiegen in diese Straße verfolgt habe, beibehalten will.

Die Gewohnheit eines zeitnahen Sich-der-Welt-Vergewisserns erklärt vielleicht den Umstand, dass immer dann, wenn eine zeitnahe Überprüfung von Annahmen nicht möglich ist, eine nervöse Spannung entsteht. Zum Beispiel entsteht Spannung vor der eigenen Geburtstagsfeier, zu der man Geschenke zwar erwarten kann, aber nicht bekannt ist, welcherart diese Geschenke sein werden. Es gibt kulturelle Vorkehrungen, die dabei entstehende Spannung zu mildern, indem man auf der einen Seite "nichts Besonderes" verschenkt oder andererseits von vornherein ganz auf Geschenke verzichtet, und sogar darum bittet, entsprechende Geldbeträge gemeinnützigen Organisationen zukommen zu lassen. Alle Termine, an denen etwas passieren wird, sind spannend. Jeder Krimi hat ein Ende, auf das wir mit Spannung hinlesen. Aber wenn wir die Spannung nicht mehr aushalten, lesen wir doch heimlich das Ende vorweg. Oder wir durchsuchen im Elternhaus alle Schränke und Schubladen, wenn wir nicht länger auf unsere Geburtstagsgeschenke warten wollen. Ein bevorstehendes Rendezvous macht uns fahrig, die kommende Abschlussklausur zitternd. Kurz vor dem Antritt der Urlaubsreise geraten sich liebevolle Paare noch in die Haare. - Das sind alles Klassiker.

Die Erfahrung lehrt uns die Gelassenheit. Beantwortete ich an jedem Tag Klausurfragen, dann gewöhnte ich mich schnell daran. Hätte ich viele Dates zu verbuchen, dann wäre das bevorstehende nur das nächste. Und bin ich dauernd auf Achse, dann reise ich eigentlich nicht mehr, ich fahre nur noch.


1. Mai 2003: US-Präsident Bush verkündet das Ende des Irakkrieges
(Quelle: http://en.wikipedia.org/)


Das Warten auf ein klärendes Ereignis kann ebenfalls zu einer Gewohnheit werden, beispielsweise dann, wenn Zeit und Ort seines Eintreffens unbestimmt sind und es sich auch nicht willkürlich vorziehen lässt, wie die Lektüre des Endes eines Kriminalromans. Meiner wachsenden Ungeduld ist es daher geschuldet, wenn ich das Eintreffen dieser Ereignisse als bestätigt vorwegnehme, obwohl sie nicht eingetroffen sind. Vielleicht werde ich dann sagen, dass ein bestimmtes Ereignis zwar "noch nicht", aber "so gut wie" eingetroffen ist. Zum Beleg werde ich Anzeichen ausmachen, die auf das bevorstehende Ereignis hindeuten sollen, und derartige Anzeichen schließlich selbst produzieren, um das erlösende Ereignis regelrecht herbei zu beschwören. Zu solchen Ereignissen gehören das Ende der Welt, die Rache der Natur, das nächste große Erdbeben und die Rückkehr des Messias. Alle Verschwörungs- und Katastrophentheorien berufen sich auf die bloße Möglichkeit ihres Gegenstandes. Es sind dies Ereignisse, die entscheidende Auswirkungen auf mein Leben haben könnten, sollten sie tatsächlich zutreffen. Aber da ihr Zutreffen nicht absehbar ist - wer dennoch versucht, das Ende der Welt präzise vorherzusagen, gibt sich schnell der Lächerlichkeit preis -, kann man eigentlich nur darauf warten.


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