Ausgabe 1 / 07 Archiv Impressum Heim von RX5
xtra5online
Das Online - Magazin von RX5


In der einen Kunstecke

Schönes Leben, prekäres Liedgut

Lieblich gewaschen Bergeltops

In der anderen Kunstecke











Schönes Leben, prekäres Liedgut
von Holger Lange

Hendrik Schwalb, vor 37 Jahren in Offenbach geboren, lebt seit 1994 in Berlin und sammelt seit er 15 ist Schallplatten

Seinen Unterhalt verdient der gebürtige Hesse als Mitarbeiter des Computer-Support beim Rundfunk. Vor kurzem war er noch Hausmeister in der Kantstraße. Auch mal Kurierfahrer. Und immer wieder Teilzeitgastronom und Party-Organisator. Der Offenbacher studierte nach seinem Zivildienst Germanistik in der Main-Metropole Frankfurt, anschließend in Potsdam. Von da aus gelangte er zum uniRadio Berlin-Brandenburg. Der Hochschulfunker sattelte um auf Online-Redakteur, und schloss noch eine aus eigener Tasche finanzierte Ausbildung zum Tontechniker an. Seine Vinylscheiben lagert der Wahlberliner in seiner Wohnung, einem modernisierten Altbau in Charlottenburg-Wilmersdorf. "Vielleicht sollte man die Sammlung mal ordnen, sonst findet man nichts", murmelt er selbstironisch, während er die aufgereihten Longplayer durchsieht.

Welche seine Lieblingsplatte ist, sagt er nicht sofort, und dann: "Das schwankt." Er zieht aus dem Stapel "From the Heart of Town" der englischen Band Gallon Drunk hervor: "Das ist eigentlich ganz okay. - Und das hier auch: ‚Sour Mash' von Beasts of Bourbon." Und noch eine LP der australischen Punk Blues Band: "The Axeman's Jazz". Überhaupt, die Australier: "Cosmic Psychos: Auch eine tolle Band. Die machen sehr, sehr straighten Rock." Auf dem Cover posieren drei Typen in Holzfällerhemden auf einem Caterpillar.

"Das hier ist übrigens eine wirklich schöne Platte: ‚Drehorgeln, Automaten und Orchestrions', eine alte Amiga-Platte, wie man sieht", erklärt Hendrik Schwalb begeistert, "Hört sich alles sehr nach ‚alter Zeit' an. Können wir ja zum Spaß mal auflegen." Er legt den Tonträger aus der DDR ("damals noch für 12 Mark 10") auf den Plattenteller und es erklingt eine polyphone Rummelplatzmusik. "Du merkst, die Spannbreite ist weit, die Sammlung thematisch nicht festgelegt." Das Orchestrion spielt jetzt eine "Herzensgrüße-Mazurka". Es hört sich an, als fiele der Automat gleich auseinander.

Die erste selbst erworbene Platte des Offenbachers ist "Ahl Männer, aalglatt" von BAP. Er hat sie immer noch. Sie steht mit den anderen LPs im selben Stapel. Nein, kein Fahneneid, doch ein Bekenntnis. Mit "aalglatten alten Männern" kommentieren die Kölner Mundart-Rocker Ronald Reagans Besuch auf dem Bitburger Soldatenfriedhof: "Schauspieler, die 'm Schmierentheater durchfeele - mangels Talente - konfus met Erdteile jongliere, en Rolle vun Staatspräsidente." Damals im Jahr 1985 erregte der scheinbare Lapsus im Protokoll des Staatsbesuchs auf beiden Seiten des Atlantiks heftige Proteste. Denn in Bitburg liegen auch Angehörige der berüchtigten Waffen-SS begraben. Umso peinlicher Kanzler Kohls Beharren auf diesen Ortstermin. Nicht minder peinlich die Erklärung im Nachhinein aus dem Weißen Haus, man hätte im Grunde von nichts gewusst.

Weitaus ehrlicher erscheinen da doch ur-deutsche Schlager aus der Single-Abteilung der Sammlung: Ulli Martin "Bleib heute Nacht bei mir", Ronny "Kenn ein Land", Werner Stamm "Meteor-Marsch" (gespielt vom Musikkorps der Schutzpolizei Dortmund), und "Das hält die stärkste Frau nicht aus" von Johanna von Koczian. Hendrik Schwalb arrangierte aus diesen Tondokumenten ein parodistisches Radio-Feature, das 1998 in der uniRadio-Sendung "RX5" ausgestrahlt wurde. Als eine der wenigen nicht-musikalischen Aufnahmen fand in dem Feature eine Freiluft-Predigt von Pater Leppich Platz. Der Sohn eines Gefängnisaufsehers, auch als "Maschinengewehr Gottes" bekannt, spricht auf der Reeperbahn gegen Sittenverfall und Leninismus. Der Sammler unterlegte seine Rede mit dem Song "Anywhere out of World" der Gruppe Dead Can Dance.



"Die Sammlung ist wirklich ungeordnet", entschuldigt er sich, während er weiter darin stöbert. Die Kollektion entsteht mit der Zeit und zufällig. "Gezielt suche ich eigentlich nur, wenn mal was Gutes im Radio läuft." Hendrik Schwalb bevorzugt die Spätsendungen ab 22 Uhr. En passant vollzieht sich das Finden fast immer über das Cover. "Das muss etwas in mir zum Klingen bringen. Hat vielleicht was mit Nostalgie zu tun. Auf jeden Fall muss ich dazu eine Idee haben. Na ja, und dann ist es halt auch Risiko."

Oder eben Glück: "Great Instrumentals in Hifi-Stereo" blieb bei einer Wohnungsauflösung übrig. Niemand wollte die Scheibe haben. Gern nahm der Plattensammler sich ihrer an. Darauf zu hören sind Filmmusiken in neuem Arrangement von James Last, Max Greger und anderen Ikonen der westdeutschen Bigband-Szene. Der Party-Macher wirft den Plattenspieler an: Das Kurt-Edelhagen-Orchester spielt "Exodus".

Die "Starken Songs" von "Liederboss" Gunter Gabriel stellen einen Spezialfall dar. Einerseits kommentiert Hendrik Schwalb Lieder wie "Willi Klein der Fernsehmann" denkbar knapp mit dem Wort "grob". Andererseits stellt er fest, dass Gabriel tatsächlich das Prekariat schon sehr früh (1977) mit seinen Songs zu Thema gemacht hat. Es handele sich also genau genommen um "prekäres Liedgut": "Papa trinkt Bier, Mama ist krank, und keine Pfennig auf der Bank..."

Bei manchen Platten lässt sich nicht mehr nachvollziehen, wie sie überhaupt ins Sortiment geraten konnten. "Das hier ist zum Beispiel absoluter Schrott: ‚Träumereien 3' von Richard Clayderman. Meine Oma hat so was immer gerne gehört. Vielleicht deshalb." Über jeden Verdacht erhaben ist dagegen "Das Tor zu einer anderen Welt", Folge 1 aus der Europa-Jugend-Reihe "Commander Perkins". Ebenso "Sinatra's Sinatra - A Collection of Frank's Favorites", "Marlene Dietrich at the Cafe de Paris" und "Cheap Thrills" von Janis Joplin.

"Das hört sich an wie ‚Godzilla erobert Tokio'." Gemeint ist die LP "Killsonic Action" der japanischen Noise Punk Band A.N.P., was für "Absolute Null Punkt" steht. "Man kann es auch Lärm nennen.", ruft der Plattenmeister und lacht: "Man beachte das Crescendo, das gleich kommt". Am Ende des Stücks schreit jemand, vermutlich der Komponist Kazuyuki K. Null.

Dann entsinnt sich der Plattensammler wieder seiner Lieblingsband Beasts of Bourbon "mit so lebensbejahenden Titeln wie ‚Graveyard Train' oder ‚Psycho' oder ‚The Day Marty Robbins Died'" Während die Musik läuft, stellt er fest, dass die linke Box keinen Ton mehr von sich gibt. Vielleicht ein Kabelbruch? "Könnte sein", sagt der Partybeauftragte. Ab und an tut die Hifi-Anlage ihren Dienst eben auch außer Haus. Da kann beim Transport schon mal was kaputt gehen. Doch es ist zum Glück nur ein kleiner Wackelkontakt.






Zurück auf Anfang !