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Charlottenburg: Das Herz des Westens

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Charlottenburg: Das Herz des Westens
von Hendrik Schwalb

Worin der Autor einen Teil der Stadt beschreibt, der sich selbst als das Herz von etwas sieht, das es gar nicht mehr gibt: Den alten Westen.
Von Berlin.


Das Herz des Westens: Charlottenburg. Charlottenburg ist anders. Die Kneipendichte ist nicht unbedingt hoch, die Clubdichte ebenso. Verbunden ist Charlottenburg seit der Berliner Bezirksreform 2001 mit dem ähnlich gelagerten Wilmersdorf. Über die Bezirksgrenzen hinaus bekannt wurde Wilmersdorf eigentlich nur durch das siebziger Jahre GRIPS-Musical "Linie 1". In dem Stück terrorisieren die "Wilmersdorfer Witwen" alle anderen, die nicht in das ordentliche Weltbild der Witwen passen, in der U-Bahn mit drastischen Benimm-Kursen. Dieses Wilmersdorf nun wurde mit Charlottenburg zum Großbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf verschmolzen. Die legendäre Kinomeile Kurfürstendamm, die durch beide Teile des Großbezirks führt, ist tatsächlich eine Legende, da es dort kaum noch Kinos gibt.
Überdurchschnittlich ist dagegen die Dichte an Schöner-und-teurer-leben-Läden aller Art sowie Hoch- und Höchstpreis-Restaurants. Anzug- und Frackträger trifft man hier häufiger an als in irgendeinem Teil der Stadt, vielleicht mit der Ausnahme von Zehlendorf.
Aber das zählt nicht, weil es eigentlich nicht mehr Berlin ist.
Erstaunlich hart sind die Gegensätze im alten Westen: Neben den schon erwähnten Anzugträgern schleicht manch heruntergekommene, verwirrte und allgemein verwahrloste Figur durch die Straßen. Diese Personengruppe bestreitet ihr tägliches Einkommen im Zweifelsfall mit dem Durchstöbern von Abfalleimern und Mülltonnen.

All dies kann den wahren Charlottenburger nicht irritieren: Er oder sie sieht sich immer noch im Herzen der Stadt, am Puls der Zeit und mitten im Trubel.
In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts mag das sogar gestimmt haben. Da war "Charlottengrad" unter anderem der Treffpunkt von Exil-Russen, Schriftstellern, Lebenskünstlern und vielen anderen. Der Gleichklang von:
"Nacht ! Berlin ! Tauentzien ! Kokain !" trug einiges zum Ruf Berlins als Stadt der "Goldenen Zwanziger" bei.
Vorher, in den Jahren 1917 und 1918, hatten einige der Exil-Russen den Sieg der Bolschewiki in ihrer Heimat nicht verwinden können und Selbstmord begangen.

Im Grunewald gibt es nahe der Havel einen Friedhof, der mit Revierförstern, einer Prominenten, nämlich der Pop-Ikone Nico, vielen namenlosen Toten der letzten Kriegstage des 2. Weltkriegs in Berlin, ein paar "normalen Toten", und zum Teil mit Selbstmördern aus der Zeit 1917/18 belegt ist. Ursprünglich war der Friedhof eine Art wilde Begräbnisstätte für Selbstmörder, die häufig am Ufer der Havel angeschwemmt und für die Forstverwaltung zum Problem wurden, da Selbstmörder zur damaligen Zeit nicht auf kirchlichen Friedhöfen beerdigt werden durften. Der Friedhof liegt zwar in dem großen Teil des Grunewalds, der zu Wilmersdorf gehört, aber Sie wissen ja, die Bezirksreform.

Später, in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, wurde in Charlottenburg und Wilmersdorf gerade die gutbürgerliche Gegend rund um den Kurfürstendamm zum Hauptaufmarschgebiet von Bürgerschrecks wie radikale Studenten und Kommunarden.
Die berühmte "Kommune 1" hauste in der Puff-Gegend am Stuttgarter Platz.
Auch Charlottenburg war und ist eben nicht an allen Ecken nur nobel und geschniegelt.
Die "Kommune 1" versuchte mit tatkräftiger Unterstützung der Bild-Zeitung einen Skandal nach dem anderen zu produzieren. Meist mit erstaunlich großem Erfolg. Auch den ersten Märtyrer der Bewegung gab es in Charlottenburg: Der Student Benno Ohnesorg wurde am Rande einer Demonstration 1967 in der Krummen Straße von einem Polizisten erschossen.
Bald danach begann für viele der "Marsch durch die Institutionen" und für einige der Marsch in den mörderischen Untergrund des Terrorismus.

Eine Revolution ganz anderer Art begann auf dem "Ku'damm" im Jahre 1989. Die erste "Love-Parade" mit dem Motto "Friede, Freude, Eierkuchen" rollte über die Prachtmeile des Westens. Ein Urknall der Techno-Kultur. Die "Love Parade" verließ, nach ihrem explosionsartigen Anschwellen von knapp 150 Freaks auf mehrere 10.000, den zu engen Kurfürstendamm und rollte ab 1996 über die nahe gelegene Straße des 17. Juni durch den Tiergarten. Mit Start am Ernst-Reuter-Platz. In Charlottenburg. 1999 war der Höhepunkt des Massenauflaufs mit geschätzten 1,5 Millionen Gästen an der Strecke erreicht. Danach ging es bergab. Irgendwann hörte die Parade einfach auf zu existieren. Neuerdings, so hört man, gastiert die Love-Parade für fünf Jahre im Ruhrgebiet. Diese bewegte Geschichte sieht man dem Stadtteil heute nicht mehr an. Viel mehr ist die allgemeine Berliner Depression auch in Charlottenburg zu spüren. Es geht entweder nur ganz teuer oder ganz billig, dazwischen ist fast nichts mehr. Entweder Prosecco für 30 Euro und mehr, oder Billig-Sekt von Aldi.

Dann gibt es da noch tief im Westen, genauer gesagt im Westend, das Olympia-Stadion. In der Original-Version von 1936, vor einigen Jahren aber aufwändig umgebaut und für modernere Ansprüche hübsch gemacht. Unter anderem natürlich auch für die Fußball-Weltmeisterschaft 2006.
Der hier spielende Fußballklub Hertha BSC hat seine Wurzeln eigentlich am Gesundbrunnen im Wedding. Aber das ist lange her.
Fast ebenso lange wie die letzte Meisterschaft der "Alten Tante Hertha", die 1931 zu bejubeln war. In den Jahren zwischen 1980 und 1995 war die Hertha mehrfach fast pleite, und pendelte meist orientierungslos zwischen Zweiter und Dritter Liga hin und her. Mit Ausnahme eines kurzen Zwischenspiels in der ersten Liga der Saison 1990/91.

Ab Mitte der neunziger Jahre wurde dem Verein ein drastisches Facelifting durch einen Großkonzern verpasst, der auch als Anteilseigner groß einstieg.
Spitzenfußball für die Hauptstadt sollte es jetzt sein. "Play Berlin". Immerhin spielte die Hertha ein paar Mal in der Champions League, aber für die echten Spitzenplätze in der Bundesliga reichte es selten. Noch seltener dauerhaft.
Lange Zeit hielt sich die Hertha im Mittelfeld der Tabelle auf, aber für die Ansprüche des Managements, der Zuschauer, überhaupt Berlins war das viel zu wenig.
Mittelmaß mag man hier nicht, dann lieber zu Hause bleiben und motzen.
Das kostet nichts und macht auch Laune. Eben wie Berlin.
Daraufhin legte die Hertha eine bemerkenswerte Karriere hin: in der Saison 2008/2009 fast Meister, in der Saison 2009/2010 in die zweite Liga abgestiegen.
Nun kann sich der Hauptstadtklub mit Fußballgrößen wie Duisburg, Paderborn oder Aachen messen. Immerhin gibt es dann aber auch interessante Lokalduelle mit Union Berlin und Energie Cottbus.

Einige Besonderheiten, die man eher woanders vermuten würde, hat Charlottenburg aber auch. Zum Beispiel das ICC, das Internationale Congress Centrum. Es sieht aus als wäre ein Siebziger-Jahre-Raumschiff-Traum direkt neben Messegelände und Stadtautobahn gelandet. Schräg gegenüber ist der ZOB, der Zentrale Omnibus Bahnhof. In normalen Städten wäre dieser wohl tatsächlich in einer zentralen Lage angesiedelt, und nicht wie hier am äußersten Rand der besiedelten Stadt. Aber immerhin in strategisch günstiger Nähe zur Autobahn.

Zumindest als Landschaft bietet Charlottenburg erstaunlich viel. Vom Volkspark Jungfernheide im Norden, fast am Flughafen Tegel, über den Schlossgarten Charlottenburg bis hin zum Breitscheid-Platz am Bahnhof Zoo sind fast alle vorstellbaren "Stadtlandschaften" vorhanden. Zudem sind Ausflüge ins benachbarte, durch die schon erwähnte Bezirksreform aber regelrecht mitvereinigte Wilmersdorf sehr zu empfehlen.Sehr schön ist der Grunewald im Sommer: Zwanzig Minuten mit dem Rad, schon steht man am grünen Ufer der Havel und kann in den kühlenden Fluten schwimmen gehen.
Und im Winter lockt der Teufelsberg mit der längsten und eigentlich einzig ernstzunehmenden Rodelbahn Berlins. Viel Freizeitwert also im Herzen des "Alten Westens", aber ist es auch insgesamt das "Herz der Stadt"?
Das liegt dann doch eher im Osten und bezeichnet sich selbst als "Mitte" ...


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